§ 6 Organisationsrecht der OHG
Fall 7: A, B und C sind die Gesellschafter
der "Zweiradhandel OHG". Nach dem Gesellschaftsvertrag ist Unternehmensgegenstand
der Handel mit Fahr- und Kleinkrafträdern; der Vertrag bestimmt
zudem, die Gesellschaft werde entweder gemeinschaftlich durch A
und B vertreten oder durch jeweils einen der beiden zusammen mit
den Prokuristen P. Als A seinen Mitgesellschaftern vorschlägt,
künftig auch Ersatzteile zu produzieren, lehnen B und C dies
ab. Da A die Ersatzteilproduktion trotzdem realisieren will, begibt
er sich mit P in die Geschäftsräume der G-Bank und vereinbart
dort die Aufnahme eines Investitionskredits in Höhe von 10
Mio. Euro. Zur Absicherung des Kredits bestellen A und P der G-Bank
eine Grundschuld auf das Grundstück der OHG.
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I. Unterscheidung Geschäftsführung /
Vertretung
Geschäftsführung: jede zur Förderung
des Gesellschaftszwecks bestimmte, für die Gesellschaft wahrgenommene
Tätigkeit, die nicht die Grundlagen der Gesellschaft betrifft;
umfaßt auch rein tatsächliche Maßnahmen (z.B. Korrespondenz,
Organisation)
Vertretung: derjenige Teilbereich der Geschäftsführung,
der das rechtsgeschäftliche Außenhandeln der Geschäftsführer
umfasst
Die Vertretungsmacht bestimmt das rechtliche
Können (im Außenverhältnis), die Geschäftsführungsbefugnis
das rechtliche Dürfen (im Innenverhältnis).
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II. Der gesetzliche Regelfall (keine oder keine
abweichende Vereinbarung)
1. Geschäftsführung
- § 114 Abs. 1 HGB alle Gesellschafter sind geschäftsführungsbefugt
Grundsatz der Selbstorganschaft (also Geschäftsführung durch
die Gesellschafter, ohne dass es eines besonderen Bestellungsaktes bedarf)
- § 115 Abs. 1 HGB Einzelgeschäftsführung mit Widerspruchsrecht
(vgl. demgegenüber § 709 Abs. 1 BGB: Gesamtgeschäftsführung
aller Gesellschafter)
- § 116 Abs. 1 HGB Einzelgeschäftsführungsbefugnis erstreckt
sich lediglich auf den Bereich der gewöhnlichen Geschäfte;
bei "darüber hinausgehenden" Handlungen ist ein Beschluss sämtlicher
Gesellschafter erforderlich
- § 116 Abs. 3 HGB Sonderfall: Prokuristenbestellung
2. Beschlussfassung durch Gesellschaftergesamtheit
- ist nach § 116 Abs. 2 HGB erforderlich bei Angelegenheiten, die nicht
mehr zur gewöhnlichen Geschäftsführung gehören
- bei der Beschlussfassung gilt das Einstimmigkeitsprinzip Stimmenthaltung
und Nichtteilnahme an Abstimmung gelten als Ablehnung
- kommt ein Beschluß wirksam zustande, so sind die Geschäftsführer
zur seiner Ausführung verpflichtet
- das HGB enthält bislang keinerlei gesetzliche Regelung zur Gesellschafterversammlung
(z.B. Einberufungsformalitäten, Ablauf, Information der Gesellschafter
usw.)
3. Kontroll- bzw. Informationsrechte
- Einsichtsrecht nach § 118 Abs. 1 HGB, zudem Auskunftsrecht (von Rechtsprechung
entwickelt); aus § 666 BGB ergibt sich ferner Rechenschaftspflicht des
geschäftsführenden Gesellschafters
- weitergehende Informationsrechte im Umwandlungsgesetz-1994: § 41 i.V.m.
§ 8, § 216
4. Vertretung
- Organschaftliche Vertretung entsteht anders als rechtsgeschäftliche
Vertretung nicht durch Rechtsgeschäft des Individualrechts, sondern
hat seine Grundlage in der Verbandsordnung; zudem ist der zur Vertretung
berechtigte Organwalter kein außenstehender Dritter
- § 125 Abs. 1 HGB Einzelvertretung durch sämtliche Gesellschafter
(anders als bei GbR; vgl. § 714 i.V.m. § 709 Abs. 1 BGB)
- § 126 HGB unbeschränkte und unbeschränkbare Vertretungsmacht
(hat u.a. zur Konsequenz, dass Widerspruch nach § 115 Abs. 1 HGB nicht
ins Außenverhältnis "durchschlägt")
- Grundlagengeschäfte als Ausnahme hierzu BGH WM 1995, 336 ("Night
Club II")
III. Mögliche abweichende Gestaltungen durch
den Gesellschaftsvertrag
1. § 109 HGB gesellschaftsvertragliche Gestaltungsfreiheit
- grundsätzlich herrscht beim Innenrecht der Personenhandelsgesellschaften
eine sehr weitgehende Gestaltungsfreiheit; dies bedeutet allerdings
nicht, dass hin bis zur Grenze der §§ 138, 826 BGB jedwede Rechtsgrundsätze
fehlen
2. Geschäftsführung
- § 114 Abs. 2 HGB Ausschluss einzelner Gesellschafter von der Geschäftsführung
dann auch kein Widerspruchsrechts nach § 115 Abs. 1 HGB
- § 115 Abs. 2 HGB Gesamtgeschäftsführung (in der Sache
Übernahme der GbR-Regelung - § 709 Abs. 1 BGB)
- weitere Alternativen: Ausschluß aller Gesellschafter von
Geschäftsführung zulässig; nach h.M. bleibt den Gesellschaftern
aber die Möglichkeit mit einstimmigen Beschlüssen Weisungen
zu erteilen; Errichtung von Beiräten
3. Willensbildung im Bereich der außergewöhnlichen
Geschäftsführung
- für die Beschlussfassung der Gesellschafter kann das Mehrheitsprinzip
vereinbart werden (§ 119 Abs. 2 HGB); auch werden gesellschaftsvertragliche
Regelungen für zulässig gehalten mit denen der Bereich der
(gewöhnlichen) Geschäftsführung zu Lasten der gemeinschaftlichen
Beschlussfassung ausgedehnt wird
- begrenzt wird die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter insoweit
nach traditioneller Ansicht durch den Bestimmtheitsgrundsatz
- heute geht die h.M. des rechtswissenschaftlichen Schrifttums demgegenüber
von einem mehrheitsfesten Kernbereich der Mitgliedschaftsrechte
aus (Unterscheidung von unverzichtbaren und unentziehbaren Rechten)
4. Kontroll- und Informationsrechte
- Beschränkungen der Gesellschafter-Rechte möglich historischer
Gesetzgeber hielt hier lediglich die zwingende Grenze des § 118 Abs.
2 HGB für erforderlich
5. Vertretung
- § 125 Abs. 1 HGB Ausschluss einzelner Gesellschafter von der Vertretung
- § 125 Abs. 2 Satz 1 HGB (echte) Gesamtvertretung durch mehrere oder
alle Gesellschafter Gesamtvertreter können sich untereinander
ermächtigen (§ 125 Abs. 2 Satz 2 HGB)
- § 125 Abs. 3 HGB unechte bzw. gemischte Gesamtvertretung soll
die Vertretung der Gesellschaft erleichtern ist daher organschaftliche
Vertretung, deren Umfang sich nach § 126 HGB richtet und nicht etwa
nach § 49 HGB auch hier Ermächtigung prinzipiell zulässig
(§ 125 Abs. 3 Satz 2 HGB)
- nach h.M. unzulässig ist der Ausschluss sämtlicher Gesellschafter
von der Vertretung Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstorganschaft
6. Offene Fragen
IV. Sozialverbindlichkeiten, Sozialansprüche und action pro
socio
Sozialverbindlichkeiten (Sozialverpflichtungen) = Verbindlichkeiten
der Gesellschaft gegenüber einzelnen Gesellschaftern aus dem
Gesellschaftsverhältnis bzw. (umgekehrt:) Ansprüche des
Gesellschafters gegen die Gesellschaft; z.B. Anspruch auf anteiligen
Gewinn, Abfindungsanspruch, Aufwendungsersatzanspruch
Sozialansprüche = Ansprüche der Gesellschaft gegenüber
einzelnen Gesellschaftern aus dem Gesellschaftsverhältnis (z.B.
Anspruch auf Erfüllung der Beitragspflicht, Anspruch auf Erfüllung
der Pflicht zur Geschäftsführung, Schadensersatzanspruch
bei Vertragsverletzungen oder Treupflichtverstößen)
Actio pro socio = Recht eines jeden Gesellschafters, von
den Mitgesellschaftern Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber
der Gesellschaft zu verlangen und im eigenen Namen Klage auf Leistung
an die Gesellschaft zu erheben (Prozeßstandschaft)
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V. Missbrauch (organschaftlicher) Vertretungsmacht
1. Nähere Eingrenzung des Problems
- Auseinanderfallen des rechtlichen Dürfens im Innenverhältnis
(beschränkt durch Unternehmensgegenstand, Gesellschafterbeschluss,
Widerspruch anderer Geschäftsführer) und des rechtlichen Könnens
im Außenverhältnis
- zu unterscheiden von Geschäftsschluss durch einzelnen Gesamtvertreter
oder Abschluss eines von der Vertretungsmacht nicht mehr erfassten Rechtsgeschäfts
(Grundlagenbereich)
2. Ultra vires-Doktrin und Restriktionen der älteren
deutschen Lehre
- nach der im angloamerikanischen Rechtskreis anerkannten ultra-vires-Doktrin
wird die Rechts- und Handlungsfähigkeit eines Verbandes vom satzungsmäßigen
Verbandszweck beschränkt
- von der älteren deutschen Lehre wurde ein ähnlicher Ansatz
in bezug auf einzelne Gruppen vom Rechtsgeschäften (insb. bei Schenkungen
zu Lasten des Gesellschaftsvermögens) vertreten diese Ansicht
ist heute jedoch längst überholt
3. Meinungsstreit: Missbrauch als bloße Pflichtverletzung
oder Außenwirkung bei Evidenz
- erste Meinung: die Verletzung interner Pflichten ist generell
nicht geeignet, eine Unwirksamkeit der Bindungen im Außenverhältnis
herbeizuführen
- zweite Meinung: (im Recht der OHG wohl vorherrschend): keine
Bindung der Gesellschaft, wenn Dritter vom Mißbrauch positive
Kenntnis hat oder sich ihm zumindest aufdrängen muss, dass geschäftsführender
Gesellschafter seine internen Bindungen überschreitet (Evidenz
des Pflichtverstoßes)
VI. Entzug der Geschäftsführungsbefugnis
und der Vertretungsmacht (§§ 117, 127 HGB)
- beachte: ist etwas völlig anderes als vertraglicher Ausschluss
von Geschäftsführung und Vertretung
- bei der OHG kann einem Gesellschafter nach den gesetzlichen Vorschriften
die Geschäftsführungsbefugnis und die Vertretungsmacht nur
durch Gestaltungsklage entzogen werden (§§ 117, 127 HGB) dann auch
Verlust des Widerspruchsrecht
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